Ethik des Impfens. Impfentscheidungen, ethische Konflikte und historische Hintergründe

Abstract

Im Februar 2020 wurde die Erkenntnis unausweichlich: Das Coronavirus hatte eine weltweite Pandemie ausgelöst. Fachleute hatten ein solches Szenario lange erwartet. One Health heißt das Forschungsfeld, das sich mit neu entstehenden Viren und mit ihrem Ursprung im Tierreich befasst. Laufend aktualisierte Pandemiepläne lagen schon lange bereit, um etwaige kommende Pandemien einzudämmen; die Pläne des Robert Koch-Instituts waren zuletzt 2017 aktualisiert worden.[1] Auch wenn ab und an Maßnahmen etwa gegen die Vogelgrippe öffentlich diskutiert wurden, erschien der allgemeinen Öffentlichkeit die Vorstellung, von einer Seuche bedroht zu sein, wie aus der Zeit gefallen. Den Anachronismus bald durch medizinischen Fortschritt überwunden zu haben, war bereits in den ersten Wochen der Covid-19-Pandemie ein fester Topos. Die Frage "Wann haben wir eine Impfung?" stand von Anfang an im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses. Der Soziologe Armin Nassehi bemerkte die Überhöhung dieser Erwartung, er schrieb: "Die Impfung ist die Hoffnung. Die Impfung ist nachgerade eschatologisch aufgeladen."[2]

Lange bevor genügend Impfstoff vorhanden war, begann die Debatte über eine Impfpflicht. Sie betraf zuerst die Mitarbeiter:innen von Kliniken und Altersheimen, inzwischen hat sie sich auf alle gesellschaftlichen Gruppen ausgedehnt. Kinder und Jugendliche rückten in den Fokus, noch ehe überhaupt ein einziger Impfstoff für sie in Europa zugelassen war.[3] Bemerkenswert ist, dass die Diskussion über eine Impfpflicht selten von medizinischer Seite angestoßen wurde, sondern vor allem von Politik und Medien. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es nur wenige Befürworter:innen einer Pflicht zur Covid-Impfung. Bei anderen Vakzinen gibt es sie aber durchaus.

Die Debatte über Impfungen berührt naturwissenschaftliche und gesellschaftliche Aspekte. Beide können sich wandeln. Neue Sichtweisen und Argumente können neue Überzeugungen hervorbringen, und auch wissenschaftliche Befunde können durch neue Erkenntnisse ins Wanken geraten. Das Wissen über Covid-19 und seine Varianten wächst ständig. Zu Beginn der Pandemie musste man sich mit dem behelfen, was wir aus vorangegangenen Seuchen wussten. Primär bestimmten die Erfahrungen mit der Grippe, ganz konkret mit der Influenza-Pandemie der Jahre 1918 bis 1920, unseren Blick auf die Corona-Pandemie. Diese Grippe ging vorbei, ohne dass es eine Impfung gab. Staaten, die im vergangenen Jahr auf eine Durchseuchung ihrer Bevölkerung bei gleichzeitiger Isolation alter und besonders gefährdeter Menschen setzten, orientierten sich an diesem Modell. Belege dafür, dass SARS-CoV-2 sich so verhalten würde wie der Grippeerreger vor 100 Jahren, gab es freilich keine.

Auch die derzeitige Impfdebatte ist von dem Wunsch geprägt, sich auf Erfahrungen zu beziehen. In der Bundesrepublik stand das Beispiel der Masern im Mittelpunkt der Diskussion und bildete die Kulisse, vor deren Hintergrund über Zwang und Freiwilligkeit diskutiert wurde.

Bibliographical data

Original languageGerman
ISSN0479-611X
Publication statusPublished - 2021