Pockengift.

Abstract

Der größte Teil der Berliner Impfbibliothek stammt aus der Zeit zwischen 1721 und 1921. 1721 wurde zum ers­ten Mal vor der Royal Society über die Variolation mit Menschenpocken diskutiert, 1921 starb in Weimar der Leiter einer staatlichen »Lymph-Er­zeugungsanstalt«. Seine Aufgabe war es, Kühe mit Kuhpocken zu in­fizieren, um wirksamen Impfstoff zu gewinnen. Auf diesen Arzt, Ludwig Pfeiffer, geht der größte Teil der Sammlung zurück. Nach seinem Tod gelangte sie zusammen mit Beständen anderer staatlicher Impfanstalten nach Halle und von dort nach Ostberlin.

Die Bibliothek repräsentiert die ersten 200 von 300 Jahren europä­ischer Impfgeschichte. Sie gibt nicht nur den ärztlichen Blick wieder. Die Impfbibliothek bezeugt wissenschaftlichen Streit, politische Debat­ten und eine unübersehbare Zahl von Irrwegen, Lösungsansätzen und Problemstellungen. Dabei geht es nur um die Pocken. Eine Krankheit, die bei der Eroberung Amerikas 20 Prozent der dortigen Bewohner und in Europa etwa alle fünf Jahre ebenfalls etwa 20 Prozent der nach der jeweils vorangegangenen Epidemie geborenen Kinder tötete. Da aus­schließlich Menschen sie bekamen und kein Tier, spekulierte Franz Anton Mesmer, der Entdecker des animalischen Magnetismus, der Ursprung der Pocken sei »anderswo zu suchen, als in der Natur«.1

In einer geschlossenen Bibliothek mitten im leeren Berlin zwischen zweiter und dritter Welle der COVID-19-Pandemie wirken einige der damaligen Debatten frappierend aktuell. Das erhöht die Versuchung, die Quellen aus der Perspektive der Gegenwart zu lesen. Das massive Medieninteresse an Seuchen der Vergangenheit ist ein Charakteristikum die­ser Monate. Ein wenig scheint es von dem Wunsch getragen zu sein, auch diese Pandemie rasch zu den erledigten Plagen zählen zu dürfen. Das »Ende der Pandemie« bestimmt die Narration seit ihrem Beginn. »Diese letzte Strecke der Pandemie«, so wird die dritte Welle in politischen Osteransprachen genannt. Wie der brave Soldat Schwejk auf ein Wiedersehen nach dem Krieg »um sechs beim Kelch« hoffen viele auf die Zeit danach. »Stimmung! Es lebe die Nachkriegszeit! Denn bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit …«, sangen Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller über die 1920er-Jahre. Einige ahnen: Eine Pandemie endet nicht abrupt mit dem Verschwinden eines neuen Erregers. Er wird sehr lang­sam variantenreich und endemisch.

Kurz nach der Spanischen Grippe hat Egon Friedell in seiner Kultur­geschichte der Neuzeit darauf hingewiesen: Jede Zeit bringt ihre eigenen Seuchen hervor. So konstruiert das klingt, abwegig ist Friedells These nicht. Die Pest kam mit den Handelsrouten. In Deutschland wurden die Pocken zum »Skandal des 18. Jahrhunderts« 2, als erstmals jeder Ort re­gelmäßig von Postkutschen angefahren wurde. Cholera wurde zur Seuche der industriellen Ballungsräume. Und Kriege waren immer Seuchen­treiber.

Bibliographical data

Original languageGerman
Title of host publicationImpfstoffe : Kursbuch 206
Editors Armin Nassehi, Peter Felixberger
REQUIRED books only: Number of pages26
Volume206
Place of PublicationHamburg
PublisherKursbuch Kulturstiftung
Publication date2021
Edition1
Pages20-46
ISBN (Print)978-3-96196-214-3
Publication statusPublished - 2021