Für die Arrhythmischen.: Die koloniale Irrenanstalt um 1900 als Modell einer alternativen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft.

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  • Monika Ankele - Speaker

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„Die Pressluft treibt zu rasend wildem Takt. Glühende Bolzen, tödlichen Pfeilen gleich, binden Stahl an Stahl. Das kostet Nerven. Doch was ist der Mensch. Cyklopenkräfte fesselt er, zwingt sie zur Arbeit, lässt sie rasen, toben, in engem Bett, in das sein Wille sie hineinzwängt. [...] Stumm wird der Mensch, wird selbst Maschine, hämmert und schläft und schneidet Stahl und Eisen wie Papier. [...] Hart ist die Arbeit. Gehirn und Nerven geben fast mehr als menschenmöglich her.“ Diese Zeilen hinterließ ein Patient der Staatskrankenanstalt Langenhorn bei Hamburg, die 1892 als landwirtschaftliche Irren-Colonie gegründet wurde und die auf dem Behandlungsgrundsatz von Arbeit als Therapie basierte. Arbeit um 1900 – wie die in den Zeilen des Patienten beschriebene – wurde sowohl als Ursache diverser psychischer Erkrankungen gesehen, galt aber auch – in ihrer nicht-entfremdeten Form – als Therapeutikum. In meinem Beitrag werde ich am Beispiel der Anstalt Langenhorn das Konzept der kolonialen Irrenanstalt als Modell einer alternativen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft vorstellen, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts fernab vom Lärm und der Betriebsamkeit städtischer Zentren für die Behandlung psychisch Kranker errichtet wurde. An diesem Ort, der eine ruhige Lage inmitten der Natur voraussetzte, um seine therapeutische Wirkung entfalten zu können, sollten sich die PatientInnen mit landwirtschaftlichen, handwerklichen und häuslichen Arbeiten beschäftigen: Zum einen galt Arbeit – vor allem körperliche Arbeit an der frischen Luft – seit dem frühen 19. Jahrhundert als ein therapeutisches Instrument, das die Fähigkeiten der Kranken aktivieren, ihre Gedanken auf einen festen Gegenstand fokussieren und sie mit der Gemeinschaft bzw. mit der Gesellschaft wieder synchronisieren und in Einklang bringen sollte. Die meisten Menschen, so der Psychiater Maximilian Jacobi um 1822, werden „arrhythmisch“, wenn sie „in Seelenstörungen verfallen“. Arbeit als Behandlungsgrundsatz könne dem entgegenwirken, nur durch sie könne der „Mechanismus der Regelmäßigkeit“, wie es der Psychiater Johann Christian Reil 1803 schrieb, in den „Irren wieder hineingebildet werden“. Mit der kolonialen Irrenanstalt, die in ihrer gesamten Anlage auf dieses arbeitstherapeutische Prinzip ausgerichtet war, wurde, wie ich in meinem Beitrag ausführen werde, ein Ort für die „Arhythmischen“ geschaffen, an dem die Kranken, durch die Tätigkeit ihrer Hände, wieder in den Rhythmus des gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens zurückfinden sollten. Zum anderen hatte die Arbeit den Zweck, dass sich die Anstaltsgemeinschaft im Sinne einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, wie sie dem Konzept der Kolonie eigen ist, autark bzw. unabhängig von der Außenwelt versorgen sollte: Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände wie Schuhe, Körbe, Leintücher u. Ä. wurden von den BewohnerInnen der Anstalt – von den PatientInnen unter Anleitung der PflegerInnen – selbst hergestellt.
27.11.2015